FORMAT: Das Web-Lexikon Wikipedia - Milliarden Zugriffe und nur neun Mitarbeiter

Bei anderen weltweit agierenden Marken wäre das so gut wie undenkbar: Binnen nur eines Jahres verdoppelte Wikipedia-Chef Jimmy Wales den Mitarbeiterstand seines Unternehmens. Besonders viele sind es allerdings noch immer nicht. Bei der Wissensplattform mit weltumspannendem Bekanntheitsgrad und Sitz in Florida werken jetzt gerade einmal neun Leute.

Trotz knapper Personalressourcen schafft Wikipedia, wie im vergangenen Juni, bis zu sieben Milliarden Webzugriffe monatlich. Das bedeutet einen sicheren Platz unter den zwanzig meistaufgerufenen internetseiten der Welt. Die Wikipedia-Nutzer finden bereits acht Millionen Artikel in mehr als 250 Sprachen vor. Sie erledigen auch den Hauptteil der Arbeit, indem sie die Beiträge selbst verfassen.

"... wie das Rote Kreuz"
Die englische Wikipedia- Version ist mit mehr als 1,9 Millionen Artikeln die größte. Die deutsche rangiert mit 631.000 Artikeln an zweiter Stelle. Die Tendenz ist bei allen Firmeneckdaten stark steigend: 2004 bot Wikipedia insgesamt erst eine Million Artikel an. Der Firmenwert liegt damit trotz oder gerade wegen der extrem schlanken Infrastruktur bei mehreren hundert Millionen Euro. Wales‘ Firmenphilosophie geht damit immer besser auf. „Wir wollen im Informationshereich international so eine ähnliche Funktion einnehmen wie das Rote Kreuz."

Auf Spenden angewiesen
Ähnlich wie beim Roten Kreuz gestaltet sich auch die Finanzierung: Unternehmer und Nutzer spenden der Wikimedia Foundation, die Wikipedia und andere Dienste betreibt, Geld. Die Summen nehmen sich im Vergleich zum Firmenwert freilich bescheiden aus. Beim letzten Spendenaufruf im Dezember des Vorjahres nach einem drohenden Liquiditätsengpass gingen 700.000 Euro ein. Heuer flossen bisher über 500.000 Euro auf die Wikimedia-Spendenkonten. Wales deckt damit die monatlichen Kosten von rund 55.000 Euro. Ein Drittel davon sind Löhne, der übrige Teil fließt vor allem in die Technik, 345 Server mit Standorten in Florida, Seoul und Amsterdam betreibt Wikipedia. Über diese laufen auch der Nachrichtendienst Wild News und die Mediendatenbank Wikimedia Commons.

Die Qualität ist die große Schwachstelle
Wikipedia bringt damit jetzt auch renommierte Wissensanbieter und Enzyklopädien wie Encyclopaedia Britannica oder Brockhaus immer stärker unter Druck. Schließlich ist bei Wales gratis, was andere Unternehmen gegen gutes Geld verkaufen wollen. Die dreißigteilige Printversion von Brockhaus schlägt mit mehr als 2.500 Euro zu Buche, Brockhaus-Sprecherin Petra Singer hat indes ein schlagkräftiges Argument. "Bei Brockhaus wird ausschließlich geprüftes und gesichertes Wissen veröffentlicht. Unsere Redakteure sind alle Experten in ihrem Fachgebiet." Etwa alle sieben Jahre erscheint eine Neuauflage. Die Qualität des bereitgestellten Wissens ist tatsächlich die große Schwachstelle von Wikipedia. Dass jeder Nutzer Artikel schreiben, löschen oder verändern kann, macht Wales für seine Kritiker angreifbar. Auch wenn der Gründer selbst meint, dass die Qualität der Artikel in den vergangenen Jahren gestiegen und dies auf „mehr User, mehr Zeit und mehr Quellen" zurückzuführen sei. Statistiken scheinen das zu belegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wikipedia-Inhalte richtig seien, wäre demnach sehr hoch. Vor allem deshalb, weil Fehlinformationen von der großen Schreibgemeinschaft sofort gelöscht würden.

Auch Parteien schreiben um
Das Manipulationspotenzial wird allerdings ebenso genutzt. CIA, Scientoiogy oder Microsoft mischen mit – aber auch die österreichische Innenpolitik. Zuletzt ergänzte die SPÖ eine Passage zum Thema Wahlversprechen um den Zusatz, dass diese „aufgrund des Widerstandes der zweiten Regierungspartei ÖVP nicht umgesetzt werden konnten". Die SPÖ dementierte zwar. Man könne keinen Einfluss darauf nehmen, was Internet-User aus Wikipedia-Einträgen machen würden. Überführt wurde sie trotzdem. Denn der 24-jährige US-Amerikaner Virgil Griffith macht es mit einem System namens WikiScan möglich, Anderungen bis zur IP-Adresse der handelnden Personen zurückzuverfolgen. Eine Falle, in die auch schon die ÖVP tappte. Die Parteikommentatoren schrieben erwiesenermaßen kritisch an Beiträgen über die Wiener Grün-Politiker mit.

Gründung von Wikipedia
Gegründet wurde Wikipedia 2001 von Wales und dem Philosophiestudenten Larry Sanger. Bereits ein Jahr zuvor hatten die beiden mit der Vorgängerfirma Nupedia den Grundstein für die Plattform gelegt. Sanger verließ das Unternehmen ein Jahr nach der Gründung. Wales hingegen baute sein Non-Profit-Imperium zügig aus. 2006 legte Wales sein Amt als Vorstandsvorsitzender der Wikimedia Foundation zurück und hat dort jetzt eine Art Aufsichtsratsfunktion inne.

Konkurrenz von Wikipedia
Larry Sanger blieb ebenfalls in der Branche. Im Herbst 2006 baute er mit Citizendium einen Konkurrenzdienst auf. Die Plattform sieht Wikipedia zum Verwechseln ähnlich. Sangers Weiterdreh der Wikipedia-Erfolgsgeschichte sollte eigentlich die Einführung von Kontrolloren zur Überprüfung der Artikel auf ihren Wahrheitsgehalt sein. Doch auch bei Citizendium sind mittlerweile die Grenzen fließend. Die hauseigenen Redakteure müssen viel Zeit für das Verfassen von Artikeln aufwenden, um gegenüber Wikipedia Boden gutzumachen.

Wales' Ansprüche bleiben ebenfalls hoch, auch wenn ihm die Grenzen des qualitativen Wachstums von Wikipedia bewusst sein dürften: „Wir wollen einmal so gut wie Brockhaus oder Britannica werden", sagte er. „Zugegebenermaßen haben wir das aber noch längst nicht geschafft."

Aus der FORMAT-Ausgabe 37/2007