"L.A. Noire" von Rockstar Games im TEST:
Los Angeles von seiner ganz düsteren Seite

Ist das ein Spiel oder doch „nur“ ein Film? Diese Frage lässt sich bei L.A. Noire, dem neuesten Wurf der Erfolgschmiede Rockstar Games, nicht beantworten. Was anfangs als „Film noir“ in GTA-Spielmechanik durch die Presse gehypt wurde, entpuppt sich im Test als ambitionierter Versuch, ein neues Kapitel in der festgefahrenen Genre-Kultur der Spieleindustrie aufzuschlagen. Das Spiel ist ab heute für Playstation 3 und Xbox 360 im Handel erhältlich.

Wir schreiben das Jahr 1947. Der wirtschaftliche Aufschwung erfasst Los Angeles und zieht auch einen Rattenschwanz an Kriminalität nach sich. Und genau den gilt es als Spieler in der Rolle von Detective Cole Phelps in den Griff zu bekommen. Nach einem längeren Tutorial, das als Streifendienst "getarnt" ist, beginnt der ehemalige Kriegsveteran seine Laufbahn im Verkehrsdezernat des LAPD und soll die Karriereleiter im Verlauf der Erzählung Stück für Stück emporklettern. Brandstiftung, Diebstahl, Verschwörungen und Mord pflastern dabei seine Ermittlungswege. Die meisten seiner zu bearbeitenden Fälle beruhen übrigens auf wahren Verbrechen der damaligen Zeit, etwa auch eine Anspielung an den berühmten Black Dahlia Mord.

Was bedeutet das für den Spielfluss? Ganz einfach: Viel Ermittlungsarbeit, eine gesunde Portion Kombinationsgabe und nicht zuletzt großes Befragungsgeschick. L.A. Noire ist in insgesamt 21 Hauptfälle unterteilt, die in linearer Reihenfolge aufgerollt werden. Ohne die Handlung verraten zu wollen, werden diese einzelnen Kapitel von einem Metaplot zusammengehalten und von kleineren (optionalen) Subplots durchzogen. Hinsichtlich Umfang gibt es jedenfalls keinen Grund zum Meckern.

Die wichtigste Waffe von Cole Phelps ist bei seiner Arbeit überraschenderweise das Notizbuch: Hier werden akribisch Hinweise vermerkt, die man an Tatorten aufsammelt und bei Befragungen aus Personen herausquetscht. Sehr smart: Ein akustisches Leitsystem und das Rumble-Feature verraten, wie geschickt man sich anstellt. Wenn die Hintergrundmusik abflacht und der Controller an keiner Stelle des Schauplatzes mehr rüttelt, wurde alles Relevante inspiziert.

Übers Reden kommen die Leute zusammen
Die Interaktion mit Augenzeugen und Verdächtigen ist es übrigens, die einen beträchlichen Anteil des Spiels einnimmt und mit der einzigartigen MotionScan-Technologie die Atmosphäre intensiviert. So muss aus der präzise gefilmten Mimik der digitalisierten Schauspieler eruiert werden, ob die befragte Person ehrlich zu Phelps ist oder ihn anlügt. Zuckt ein Auge? Bewegt sich der Nacken nervös hin und her? Wie ist das verlegene Lächeln zu interpretieren? Hat der Augenzeuge Angst? Der Spieler kann den Aussagen anschließend zustimmen, sie anzweifeln oder sie als Lüge abstempeln, muss im letzteren Fall aber einen Beweis dafür erbringen.

So beeindruckend diese Technologie zur Stimmung beiträgt, so überschaubar bleiben im Endeffekt aber auch die Konsequenzen: Liegt man mit seiner Schlussfolgerung richtig, wird man mit zusätzlichen Hinweisen und Abkürzungen zur Lösung des Verbrechens belohnt. Liegt man falsch, kann man die Fallakte nur über Umwege abschließen, indem man die fehlende Information woanders aufschnappt. Beispiel: Im Fall „Der Lippenstiftmörder“ lässt sich der letzte bekannte Aufenthaltsort des Opfers schnell eruieren, indem man die Nachbarn der Verstorbenen geschickt dazu befragt. Scheitert man daran, kann man die Bar immer noch herausfinden, wenn man die Küche des Opfers durchwühlt und ein Streichholzbriefchen mit der Adresse darauf findet. Grundlegende Veränderungsmöglichkeiten bzw. radikale Verzweigungen im Plot wie bei „Heavy Rain“ gibt es aber nicht. Schade.

Nur ein Hauch von GTA
Ganz ohne Action kommt ein Rockstar-Titel natürlich nicht aus. So gibt es auch in L.A. Noire Schlägereien, Schießereien und Verfolgungsjagden. Das akribisch und optisch beeindruckend in Szene gesetzte Los Angeles der 40er-Jahre lässt sich fernab der Handlung ebenfalls frei erkunden, sei es um einem spontanen Hilferuf über Funkspruch zu folgen oder um einfach nur die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu entdecken. Diese GTA-Ausflüge sind stets angemessen und souverän umgesetzt, halten sich aber verhältnismäßig stark in Grenzen. Immerhin will das 2.000 Seiten starke Drehbuch untergebracht werden, für das nicht selten dialoglastige Zwischensequenzen bemüht werden.

NEWS.AT-Fazit
Rockstar hat es wieder einmal geschafft, ein wegweisendes Projekt mit einzigartiger Technologie zu realisieren. Das Ergebnis dürfte dennoch nicht jedem gefallen: Wer sich ein wildes Rauben, Plündern, Morden und Herumhuren im virtuellen L.A. der 40er Jahre erwartet hat, dürfte bitter enttäuscht sein. Was L.A. Noire an spielerischer Flexibilität und Leichtgängigkeit stellenweise vielleicht fehlen mag, wird jedoch locker durch immens dichte Atmosphäre, viel Detailtreue und einer packenden Handlung kompensiert. Als schmale Gratwanderung zwischen Film und Spiel betrachtet ist L.A. Noire jedenfalls ein Meilenstein und sollte keinesfalls verpasst werden.

(Benjamin Brandtner)